Patchworkfamilien –
ein altes Lebensmodell, dass neue Chancen birgt
In den Märchen der Gebrüder Grimm ist es zu lesen: Die böse Stiefmutter, die nur ihre eigenen Kinder begünstigt und die Kinder des armen Witwers grausam behandelt.
Dieses Bild passt nicht mehr in unsere Zeit, in der die Trennungs- und Scheidungszahlen immer weiter ansteigen und Stiefelternschaft nicht mehr die Ausnahme darstellt, sondern zur normalen Realität geworden ist. Gleichzeitig haben sich Ansprüche und Erwartungen an Beziehungen verändert. Es wird davon ausgegangen, dass Lebenspartnerschaften auf Liebe und nicht allein auf Existenzsicherung beruhen. Dies beinhaltet auch das Ideal, die Kinder der*s neuen Partners*in als einen Teil der geliebten Person und damit möglichst wie eigene Kinder anzunehmen.
Diesem Anspruch gerecht zu werden ist in einer zusammengesetzten Familie nicht immer leicht. Die Grausamkeit und Herzlosigkeit, die mit dem Wortteil „Stief-“ assoziiert wird, wurde durch das neutrale, neue Wort „Patchworkfamilien“ (Patchwork = Zusammengesetztes, Flickenwerk) überwunden.
Die „Patchworkfamilie“ ist definiert als eine Familienform, in der mindestens ein Erwachsener mindestens einem Kind gegenüber nicht leiblicher Elternteil ist, sondern Stiefvater bzw. Stiefmutter. Stiefelternpaare können verheiratet sein oder als nichteheliche Lebensgemeinschaft zusammenleben. Sie sind durch eine hohe Komplexität geprägt. So sind Elternpaare nicht gleich Lebenspartner*innen und der getrennt lebende Elternteil lebt zwar außerhalb, ist aber durch seine leibliche Elternschaft zum Gesamtsystem dazugehörig.
Stieffamilien unterscheiden sich zur Herkunftsfamilie dadurch, dass ein leiblicher Elternteil entweder gar nicht mehr oder außerhalb der Familie lebt. So hat mindestes ein Teil der Kinder eine wichtige Bezugsperson, die nicht in der jetzigen Lebensgemeinschaft wohnt. In dieser Situation gilt es, die spezifischen Rollen, die sowohl der getrennt lebende, leibliche Elternteil, als auch der Stiefelternteil einnehmen soll, neu zu definieren. Zudem hat mindestens ein Teil der Stieffamilie einen schweren Verlust erlitten, dessen Auswirkungen immer auch in die neue Familie mit hineinreicht.
In einer Stieffamilie existiert mindestens eine Gruppe von Menschen, die bereits vor der Neugründung eine enge Beziehung zueinander hatte. Die Paarphase, wie es vor der Familiengründung üblich ist, entfällt praktisch in diesen Familien.
In der Beratungsstelle erleben wir immer wieder, dass Paarkonflikte dadurch entstehen, dass der/die Neue*n nur schwer einen eigenen Platz innerhalb des bestehenden Systems finden. Eingefahrene Muster, Regeln und Wertvorstellungen müssen einander angeglichen werden und sind häufig Auslöser von Familienkonflikten.
Wie wir als Berater*innen oft feststellen müssen, beginnen solche zusammengesetzten Familien ihr gemeinsames Leben nicht ohne Komplikationen.
Ein Fallbeispiel:
Herr und Frau M. wandten sich an uns, weil sie sich in der Beziehung schon länger unzufrieden fühlten.
Herr M. klagte darüber, dass Frau M. viel zu viel arbeite, ständig mit dem Haus und den Kindern beschäftigt, sexuell jedoch scheinbar interesselos sei. Was er sich wünschte wäre mehr Zeit, die er zusammen mit seiner Frau verbringen würde.
Frau M. wiederum beklagte sich, dass sie sich mit ihrer Arbeit und Leistung nicht ausreichend wertgeschätzt fühlte und sie sei schließlich die Einzige, die dafür sorge, dass das Haus nicht verkomme.
Im Gespräch stellte sich heraus, dass das Paar Teil einer Patchworkfamilie war. Beide hatten zwei gemeinsame Kinder (zwei und sechs Jahre alt), er hatte bereits eine siebzehnjährige Tochter aus erster Ehe, die in dem Haushalt ein eigenes Zimmer besaß, das direkt neben dem Schlafzimmer des Paares lag. Es bestand ein guter Kontakt zwischen den geschiedenen, leiblichen Eltern der Siebzehnjährigen. Zudem pflegten Herr und Frau M. die Mutter von Herr M., die zwar in einem Altenheim untergebracht war, an den Wochenenden jedoch die meiste Zeit im Haushalt der Familie lebte.
Das Haus gehörte Herrn M., eine Tatsache, von der sich Frau M. entmündigt fühlte: „Ich kann da nichts sagen, es gehört ja alles ihm.“ Seine große Tochter hatte zudem jede Freiheit in der Hausgemeinschaft, aber keine Pflichten, was zu einem weiteren Ohnmachtgefühl beitrug, da Frau M. sich ihr gegenüber nicht weisungsbefugt fühlte.
In der beschriebenen Situation gab es sehr oft Streit, der sich an Alltagsproblemen entzündete.
In der Beratungsstelle wurde eine sogenannte „Familienaufstellung“ durchgeführt. Für Frau M. wurde dadurch sehr deutlich, dass sie eigentlich keinen Platz in der Familie hatte. Das führte dazu, dass sie sich in einem ständigen Kampf um ihren Platz, um eine größere Anerkennung ihrer Kinder und um mehr Anerkennung für sich als Mutter kämpfte. Ihr fehlte die Unterstützung ihres Mannes, ihren Platz vor der „ersten Familie“ zu behaupten. Herrn M. war dieses Problem vorher nicht bewusst und er war sehr erstaunt über das Ergebnis. Er konnte nun erkennen, wie er das Problem, das die Beziehung belastete, lösen konnte.
Wie man in dem genannten Beispiel sehen kann, entstehen in Patchworkfamilien eine Vielzahl an Beziehungsebenen:
- die neuen Partner*innen zueinander
- Stiefeltern zu Stiefkind
- der sorgeberechtigte Elternteil zum eigenen Kind
- das Kind zum außerhalb lebenden, leiblichen Elternteil und evtl. zu dessen neuem*r Partner*in
- ehemalige Partner*innen zueinander
- Stiefelternteil zu dem außerhalb lebenden, leiblichen Elternteil
- das neue Elternpaar zum gemeinsamen Kind
- Geschwister, Stiefgeschwister und Halbgeschwister zueinander
- Stieffamilienmitglieder zur erweiterten Familie
In der Beratungsstelle werden wir regelmäßig, wie in dem Fallbeispiel zu sehen ist, mit den Risiken der hohen Komplexität dieser Beziehungsformen konfrontiert und mit besonderen, typischen Problembereichen, die einen hohen Grad an Anpassung erfordern (z.B. Grenzen nach Außen zu definieren, Loyalitätskonflikte, Konkurrenzdenken der Eltern gegenüber der Stiefeltern, Rivalität unter den Stiefgeschwistern, Ablehnung des*r neuen Partners*in oder der Kinder des/der anderen, usw.). Immer wieder erleben wir, dass sich die einzelnen Familienmitglieder mit übersteigerten Erwartungshaltungen an die neue Familie oft selbst überfordern. Der Wunsch ist groß, dass sich die Familie umgehend wieder als „normale“ Familie fühlen solle, sich möglichst sofort gegenseitige Sympathie einstellen müsse und Konflikte möglichst vermieden werden sollten, damit die Familie nicht schon wieder scheitert und sich nicht erneut auflöst.
Für uns Berater*innen ist es daher wichtig, die Besonderheiten einer Patchworkfamilie herauszustellen und Ressourcen zu erkennen.
So erfordert Familienneuorganisation auch ein hohes Maß an Kreativität, Offenheit, Anpassung und Toleranz. Für die ganze Familie entstehen viele Verhaltens- und Rollenanforderungen, für die keine institutionalisierten Lösungsmuster existieren. Gleichzeitig bietet ein entsprechendes, alternatives Familienmodell auch Chancen, die es zu erkennen und zu ergreifen gilt.
Für die Kinder können sich die personalen Kontaktmöglichkeiten ebenso wie die Modelle von Männlichkeit/Weiblichkeit/ (Groß-)Väterlichkeit/ (Groß-)Mütterlichkeit vervielfältigen, sofern ihnen Erlaubnis gegeben wird, zu allen Personen ihres familialen Netzes Kontakt aufzunehmen. Manchmal ist es gerade auch für Kinder aus schwierigen „Ersten“-Familien ein großes Glück, dass sie in der „Zweiten“-Familie an einen besseren sozialen Vater bzw. soziale Mutter geraten oder dass der Elternteil, bei dem sie leben, durch die neue Verbindung sehr viel glücklicher ist und dies sich auf die Kinder auswirkt.
In der Beratung heißt das, sich Zeit zu nehmen, um die Vielfalt und Komplexität des
Systems und der Gefühle der verschiedenen Mitglieder zu erkennen und Klarheit zu gewinnen, um zu einer hilfreichen Klärung beitragen zu können.
Eltern und Paare werden, mit Hilfe der Therapeut*innen und Berater*innen, Experten ihrer ganz individuellen Lösungsmöglichkeiten und erwerben Kompetenzen, Lebenskrisen begegnen und bewältigen zu können. Dazu gehören Verfahren, die ihnen helfen, ihre Ressourcen und Fähigkeiten zur selbständigen und eigenverantwortlichen Konfliktregelung zu entwickeln und einzurichten.
Geschrieben von:
Maren Kanngießer
LITERATUR:
Kohaus-Jellouschek, Margret, Jellouschek, Hans; Stieffamilien. In: Menne Klaus u.a. (Hrsg.); „Familie in der Krise“; Juventa-Verlag; Weinheim und München, 1988
Maier-Aichen, Regine; Friedel, Ingrid; Zusammenleben in Stieffamilien; .In: Menne, Klaus; u.a.; (Hrsg.); „Kinder im Scheidungskonflikt“; Juventa-Verlag; Weinheim und München, 1993
Schattner, Heinz; Schumann, Marianne; „Meine Kinder, Deine Kinder, unsere Kinder – Stieffammilien.“ In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.); „Wie geht es der Familie?“; Kösel-Verlag; München, 1988