„Eigentlich wollte ich nie Kinder – und jetzt?“
Frau M. nestelt nervös an den Finger-nägeln herum:
„Ich dachte immer, ich wolle nie Kinder, aber jetzt, da ich weiß, dass ich schwanger bin, bin ich mir nicht mehr sicher. Plötzlich kann ich mir vorstellen, einmal Mann und Kinder zu haben mit Haus und Garten. Wie meine Eltern oder wie man das immer in den Filmen sieht.“
Frau M. ist Ende Zwanzig und arbeitet in einem Beruf, der ihr hervorragende Karrierechancen bietet. Sie sagt, dass sie ihren Beruf liebt und dort eine ehrgeizige Laufbahn anstrebt. Deshalb hatte sie Gedanken an Kinder immer abgewehrt. Bei ihren Kontakten zu Männern überwiegten eher kurze Beziehungsepisoden, längere Bezie-hungen wurden als Wochenend-beziehung gelebt. Frau M. erzählt von einer großen Enttäuschung, die sie in einer Beziehung erlebt hat. Sie glaube allerdings, dass ihr aktueller Freund ein liebevoller Partner sein könnte und ein guter Vater wäre. Sie hätte gedacht, dass sie ihn liebe, aber jetzt wisse sie es nicht mehr so genau. Alles wäre ihr plötzlich zu nah: „Jetzt bin ich schwanger und weiß nicht mehr, was richtig ist.“
Viele Fragen beschäftigen Frau M.: Ist er der Richtige? War es Schicksal, gerade jetzt schwanger zu werden, von diesem Mann? Soll mir die Schwangerschaft ein Hinweis sein? Will ich dieses Kind jetzt überhaupt oder nicht? Passt ein Kind in mein derzeitiges Leben?
„Ich habe mich solche Dinge bisher nie gefragt. Ich habe mein Leben gelebt, immer viel gearbeitet und in der Freizeit viel unternommen. Ich bin eigentlich viel zu unruhig und nervös, um mir über meine Gefühle Gedanken zu machen.“
Sie lacht über sich selbst und sieht mich fragend an.
Im Verlauf des ersten Gespräches geht es nun um die Auseinandersetzung mit der Schwangerschaft, um die Zukunftsvorstellungen von Frau M. Ihr wird klar, dass, anders als sie bisher dachte, Familie und Kinder in ihrer Zukunftsplanung eine Rolle spielen. Aber ist jetzt der richtige Zeitpunkt und ist ihr Freund der richtige Partner? Es geht in der Beratung darum, wie sie wieder in Kontakt zu sich selbst und ihren Gefühlen kommen kann. Das Gespräch endet ohne Ergebnis bezüglich ihrer Schwangerschaft. Ich lade sie zu einem weiteren Konfliktgespräch ein und kläre sie über die Möglichkeit der Nachbetreuung auf. „Sie können wieder kommen, unabhängig ob Sie sich für oder gegen die Schwangerschaft entscheiden.“ Frau M. wirkt sehr erleichtert, dass sie mit ihrer Entscheidung nicht allein bleibt und dass sie die Möglichkeit in Anspruch nehmen kann, sich unterstützen zu lassen.
In der zweiten Sitzung ist Frau M. immer noch ambivalent und es fällt ihr schwer in Kontakt zu ihren Gefühlen zu gehen, sowohl bezüglich des Kindes, als auch bezüglich des werdenden Vaters.
In der Stunde arbeiten wir heraus, dass es für Frau M. nicht klar ist, ob sie überhaupt mit ihrem Partner zusammenbleiben möchte. Dieser Gedanke beschäftigt sie schon länger. Zudem fühlt sie sich der Verantwortung, eventuell als allein erziehende Mutter zu leben, nicht gewachsen. „Ich komm ja manchmal mit mir selber nicht klar. Wie soll ich mich denn dann um ein Kind kümmern. Ich fühle mich noch so unreif.“
Gleichzeitig beginnt Frau M. Möglichkeiten des Perspektivwechsels darin zu sehen, sich mit der Entscheidung auseinander setzen zu müssen, ob sie jetzt ein Kind bekommen wolle oder nicht. „Nun weiß ich endlich, was für mich im Leben wichtig ist und ich lerne mich ganz neu kennen. Dafür muss ich dem Kind jetzt schon dankbar sein. Ich sehe jetzt auch deutlicher, dass mein Freund nicht der richtige Partner für mich ist, denn die Vorstellung, durch das Kind für immer mit ihm in Kontakt zu sein, ist für mich nicht mehr stimmig.“
Frau M. ist sehr traurig, dass sie sich wahrscheinlich gegen das Kind ent-scheiden wird, denn für sie selbst ist das Leben ein großartiges Geschenk. Sie findet sich selbst unfair dem Kind gegenüber, weil sie ihm das Leben verwehren will. Immer wieder fragt sie: „Denken Sie, dass ich ein schlechter Mensch bin?“ Ich weise sie auf die veränderte Perspektive hin, die die Schwangerschaft für ihr Leben eröffnet habe. Es sei ihr Recht und ihre Verantwortung, sich frei zu entschei-den und es sei gewissenhaft, ihre aktuellen Lebensumstände bei der Entscheidung mit einzubeziehen.
Frau M. verlässt die Sitzung mit einem Beratungsschein und dem Hinweis, dass es hilfreich für die Bewältigung des Abbruchs sein kann, einen „Ab-schiedsbrief“ an das Kind zu schrei-ben. Sie könne sich bei ihm bedanken für das, was es ihr bisher gegeben hat und noch einmal die Gründe nieder-schreiben, warum ein Abbruch im Mo-ment als richtige Entscheidung erscheine. Frau M. vereinbart einen Termin für die Nachbetreuung. Ich empfehle ihr, über Gedanken und Gefühle in den nächsten Wochen Tagebuch zu führen, um weiter mit ihrer inneren Welt im Kontakt zu bleiben.
Die Nachbetreuung umfasste weitere vier Sitzungen.
Frau M. nutzt die Beratungsgespräche, um sich weiter Klarheit darüber zu verschaffen, warum ihre Entscheidung, dieses Kind nicht zu bekommen, für sie zu diesem Zeitpunkt sinnvoll war. Von ihrem Partner hat sie sich getrennt und sie nutzt das Tagebuch, um sich selbst besser kennenzulernen. Euphorie und das Gefühl eines Neuanfangs wech-seln sich ab mit Tränen und Trauer um das Kind. Durch die wertschätzende, empathische Haltung meinerseits und die nochmalige Betrachtung ihrer aktu-ellen Lebenssituation, ihrer Gedanken und Gefühle zur Zeit der Entscheidung, stabilisiert sich Frau M. und integriert ihre Erfahrung in ihr Selbstverständnis.
Nach Abschluss der Nachbetreuung entscheidet sich Frau M., weitere Beratungstermine zu vereinbaren, weil sie neugierig auf sich selbst geworden ist: „Weil es mir gut tut, mich kennen-zulernen.“
Die Praxis für psychosoziale Beratung e.V. bietet allen schwangeren Frauen Beratung an. Dies kann die Begleitung während der Schwangerschaft sein oder auch die Nachsorge nach einem Schwangerschaftsabbruch. Sorgen, Ambivalenzen und auch lebensprak-tische Fragen können dann sowohl im Einzel-, als auch im Paargespräch geklärt werden. In den vergangenen Jahren beobachten wir einen zu-nehmenden Bedarf an Paar- und Einzelgesprächen zu der Thematik „Beratung nach der Geburt des Kindes“ (§ 2 SchKG). Allerdings wird die Nachbetreuung vor allem von Frauen angenommen, die sich für das Austragen der Schwangerschaft ent-schieden haben. Dabei werden oft Fragen zu finanziellen Hilfen, aber auch Unsicherheiten bezüglich des Eltern-Werdens geklärt.
Auch für Frauen, die sich für den Abbruch entschieden haben, ist die Nachbetreuung, wie im Fall M., eine
gute Chance, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und sich durch Gespräche unterstützen zu lassen.
An der Stelle wird sehr deutlich, dass Schwangerschaftskonfliktberatung bei Frauen/Paaren entscheidende Lebens-themen anspricht, die weit über das Thema eines eventuellen Abbruchs hinausgehen.
Geschrieben von:
Maren Kanngießer