Qigong in Beratung und Psychotherapie
Qigong ist vielen Menschen bekannt als Methode zur Förderung von Entspannung, Gelassenheit und innerer Kraft. In China geht man davon aus, dass die körperlichen und seelischen Selbstheilungskräfte durch Qigong gestärkt werden. In den letzten Jahren hat diese Methode mehr und mehr auch in der westlichen Psychotherapie und Medizin Anerkennung gefunden und wurde in die Behandlung von psychosomatischen und posttraumatischen Stresserkrankungen integriert. Zahlreiche empirische Studien belegen inzwischen die Wirksamkeit von Qigong gerade im Rahmen von Ressourcenorientierung, Selbstregulation und Selbstwirksamkeit. Wissenschaftliche Untersuchungen aus neuropsychologischer Sicht zeigen auf, dass Qigong Übungen einen Einfluss auf unsere mentalen Ressourcen, ja sogar direkt auf unsere Hirntätigkeit und neuronalen Strukturen haben können.
Qigong als übungszentriertes Verfahren zur Gesundheitsprophylaxe und im klinischen Kontext wird überwiegend in Gruppen vermittelt, es kann aber auch gewinnbringend in der Einzeltherapie zur Anwendung kommen.
Was ist Qigong?
Qigong ist ein wesentlicher Bestandteil der traditionellen chinesischen Medizin die als weitere tragende Säulen Akupunktur, Kräuterheilkunde und Diätetik umfasst. Qigong wird als Selbstübungsmethode traditionell vor allem in der Gesundheitsvorsorge angewendet und eignet sich auch für die Behandlung und Therapie teilweise schwerwiegender Erkrankungen wie Krebs. Vor allem ist es ein Selbstheilungssystem im ganzheitlichen Sinne, da Körper, Seele und Geist gleichermaßen angesprochen werden.
Qigong bedeutet in der Übersetzung etwa: die Arbeit/Übung an der Verstärkung und Verfeinerung der eigenen Lebensenergie, dem Qi. Nach chinesischer Vorstellung ist Qi die Grundvoraussetzung allen Lebens, ist Urstoff und Energie zugleich; Qi stellt die Antriebskraft für alle Lebensvorgänge dar, so auch im menschlichen Körper. Es reguliert alle Wachstums- und Stoffwechselprozesse und ist die Antriebskraft für alle körperlichen und psychischen Abläufe im Menschen. Krankheiten werden als Ausdruck von Blockaden betrachtet, die sich auf den Energieverlaufsbahnen, den Meridianen, gebildet haben. Im Qigong-Übungsprozess wird durch die Kombination von Bewegung, Atmung, Aufmerksamkeit und Meditation das Qi im Körper so in Bewegung gebracht, dass sich Blockaden und damit die Krankheiten allmählich auflösen können.
Die Neuropsychologie entdeckt Qigong
Seit einiger Zeit ist das Interesse der Neuropsychologie für Qigong- und Meditationsübungen erwacht. Es konnten zahlreiche Ergebnisse aus der Neuropsychologie das empirische Fundament für die Wirksamkeit dieser Übungen vergrößern und neurologische Theorien entstehen lassen. In Studien konnte gezeigt werden, dass verschiedene Hirnregionen beim Üben aktiviert wurden. Dies sind beispielsweise der dorsolaterale präfontane Cortex, der notwendig ist, um die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt zu fokussieren, der anteriore cinguläre Cortex, der notwendig ist, um störende Umweltreize und intrapersonelle Gedanken auszublenden und Entscheidungen zu treffen, und Bereiche des Kleinhirns, die notwendig sind bei der Wahrnehmung und um emotionale Prozesse zu bearbeiten.“ ( Carsten Meyer im Taijiquan und Qigong Journal 2, 2009)
Psychische Wirkfaktoren von Qigong
Die Neurowissenschaften bieten nach Hüther (2006) die naturwissenschaftliche Bestätigung für körperorientierte Verfahren in der Psychotherapie. Besonders erwähnt wird hier die Möglichkeit, mit Hilfe körperorientierter Therapieformen, die Fähigkeit des*r Patienten*in zu stärken, den eigenen Körper wieder bewusster und prägnanter zu erleben und die Sinneserfahrung zu erweitern und zu differenzieren. Es ist dabei deutlich geworden, dass es ein Ich-Gefühl oder auch eine Ich-Identität nicht getrennt vom Körper gibt
Qigong ist bestens geeignet, die Entwicklung von Ich-Stärkungs- und Ich-Identitätsprozesse zu unterstützen, es hilft eine spürbare, körperlich verankerte Identität, ein Selbstgefühl zu erlangen und fördert die allgemeine Affektregulationsfähigkeit. Dazu tragen u.a. die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit, die Achtsamkeit für das gegenwärtige Geschehen, der Zugang zur sensomotorischen Wahrnehmung und die begleitenden Imaginationen bei.
Als Selbstübungs- und Selbsteilungsmethode fördert Qigong vor allem die Selbstwirksamkeit und das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten und Potentiale. Die Erfahrung, dass ich durch regelmäßiges Üben mein körperliches und seelisches Befinden positiv beeinflussen kann, dass ich mich zentrierter, kraftvoller, ruhiger, aufgerichteter, zuversichtlicher … fühle, ist essentiell stärkend.
Ein weiterer Wirkfaktor ist die Schulung der Selbstwahrnehmung, die bei Menschen mit psychischen Dysbalancen häufig reduziert ist. Qigong bietet die Möglichkeit zu erleben, wie sich Emotionen durch Körperhaltungen und Bewegungen beeinflussen kann. Das vitale Erleben einer entspannt aufgerichtete Haltung zwischen Himmel und Erde wird zum biopsychopysischen Gesamteindruck meines Selbst.
Das Erkennen von eigenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Grenzen, Stärken, Routinen und Potenzialen, die noch ausgebaut werden können, hilft uns ein stabiles Selbstkonzept zu entwerfen. Durch die Schulung unserer Beobachtungsfähigkeit für den eigenen Körper und Geist während der Qigong-Übungen wächst auch eine verfeinerte Wahrnehmung unseres Selbst in Alltagssituationen. Auf intrapersoneller Ebene lernt man beispielsweise aus den meditativen Übungen, dass innere (mentale) Prozesse angeregt werden können, wenn man äußerlich (physisch) zur Ruhe kommt. Umgekehrt erfährt der Übende, dass zum Beispiel Grübeleien oder fahrige Gedanken durch das Üben der Qigong-Bewegungen zur Ruhe kommen können.
Der generelle Wirkfaktor von Qigong, durch Ruhe- und Bewegungsübungen zu mehr Entspannung und Leichtigkeit zu finden und zu einem Grundempfinden, in der eigenen Mitte verankert zu sein, soll nicht unerwähnt bleiben.
Qigong als körpertherapeutische Methode in Gruppe und Einzelsetting
Als ganzheitlich wirkungsvolles Übungssystem beeinflusst Qigong bei regelmäßiger Ausübung nachhaltig und positiv die psychische Grundverfassung des Menschen, ein Wirkzusammenhang, der bei jeder gut angeleiteten Qigong-Gruppe auftauchen kann.
Wird Qigong hingegen im professionellen Kontext von körpertherapeutischer Arbeit eingesetzt, so bietet es ein vielschichtiges und differentielles Instrumentarium zur Selbsterforschung oder auch für neue, korrigierende Erfahrungen. Es kann geschehen, dass Bewegungen in einem Menschen Erlebensqualitäten hervorrufen, die bis jetzt in seinem Leben wenig vorhanden, schwierig erreichbar oder nicht erlaubt waren. Dazu kann zum Beispiel gehören, sich „Machtvoll wie ein Tiger“ oder „frei wie ein Kranich in den Lüften“ zu fühlen oder festen Boden unter den eigenen Füßen zu spüren und Ruhe in sich durch den Kontakt zur eigenen Mitte zu finden. Ein sicherer Rahmen, die unterstützende Zeugenschaft und die Begleitung der*s Therapeut*in, sind für solche Erfahrungen besonders wichtig.
„Wenn ich stehe wie eine Kiefer, ändert sich auch meine innere Haltung, ich spüre mich klarer und stehe zu mir.“ Eine wesentliche, oft gemachte Erfahrung von Patient*innen ist es, den Kontakt zur eigenen Mitte zu halten und sich gleichzeitig der Welt zu öffnen oder eine Stabilität zu entwickeln, die auch flexibles Handeln ermöglicht.
Gerade die Fähigkeit, mit polaren Kräften angemessen umzugehen, kann in diesen Übungen praktisch erfahren werden. In einem ständigen Wechselspiel von „Yin und Yang“, von öffnenden und schließenden, hebenden und sinkenden, Spannung aufbauenden und wieder lösenden Bewegungsabläufen, bietet sich die elementare Erfahrung von Zusammengehörigkeit verschiedener Qualitäten, wie z.B. die Erkenntnis: “Ich kann klar abgegrenzt und gleichzeitig liebevoll zugewandt sein.“
Einige Beispiele für die praktische Anwendung von Qigong in der therapeutischen Einzelarbeit
Wenn Patient*innen besonders belastet und erschöpft in eine Stunde kommen , hat sich mehrfach die Kombination einer imaginativen Übung von L. Reddemann „sich von innerem Gepäck befreien“ mit der stillen Qigong Übung „Die Lichtdusche“, die der intensiven Reinigung des ganzen Körpers dient, bewährt. Danach fühlen sich die Patient*innen in der Regel deutlich entlastet und gestärkt.
Für Menschen mit Abgrenzungsschwierigkeiten und verletzenden Erfahrungen von Grenzüberschreitung ist die Qigong-Übung „Sich einen Schutzmantel umlegen“ sehr unterstützend. Dabei hüllt sich die Patientin in einem sich beliebig oft wiederholenden Bewegungsablauf mit Hilfe der Vorstellungskraft in einen immer dicker werdenden imaginären Mantel aus schützendem Stoff ⎼ bis hin zu der Vorstellung, sich eine Eisenrüstung umzulegen ⎼ und kann bestimmte Qualitäten, die ihr derzeitig als besonders hilfreich erscheinen, mit in den magischen Kokon einweben.
Eine Patientin mit einer Angst- und Panikreaktion, die sich vor allem beim Warten in der Kassenschlange eines Supermarktes zeigte – konkret bestand die Angst darin, umzukippen und ohnmächtig zu werden, wie sie es vorher bereits einige Male erlebt hatte –, konnte sich mit Hilfe von einfachen Verwurzelungs-, Zentrierungs- und Baum-Stehübungen aus dem Qigong innerhalb kürzester Zeit, von ihrer Panik befreien. Das Gefühl des “Hilflos-nach-unten-wegsackens“ wurde durch ein neues Erleben von stabilem und kraftvollem Stehen mit wachem, aufgerichtetem Oberkörper und gesammeltem Blick ersetzt. Die Verbindung zu dem inneren Thema des „Für-sich-selbst-stehens“ als Ablösungsthema vom Elternhaus, wurde dabei deutlich benannt und verstanden.
Abschließend möchte ich aus meiner langjährigen Praxis als einerseits Qigong Lehrerin und andererseits Psychotherapeutin mit körperorientiertem Schwerpunkt noch darauf hinweisen, dass es für die psychotherapeutische Arbeit immer sehr unterstützend ist, wenn die Patient*innen/Klient*innen sich parallel zu ihrem therapeutischen Prozess mit einem ganzheitlichem Übungsverfahren wie Qigong, Taijiquan oder Yoga stärken. Es entstehen dabei zahlreiche Synergiewirkungen, die in beide Richtungen produktiv ausstrahlen. Das Qigong als ganzheitliches Therapiesystem kann die Psyche in ihrer Gesamtheit regulieren, harmonisieren und stärken.
Geschrieben von:
Marion Kellner
Literatur:
Buyin, Zheng und Meyer, Carsten: Qigong und Psyche. In: Taijiquan und Qigong Journal Heft 2, 2009, Heft 36.
Fischer, Claus und Schwarze, Micheline: Qigong in Psychotherapie und Selbstmanagement. Klett-Cotta, Stuttgart 2008.
Pankoke, Jens: Psychische Gesundheit, Entwicklung und Veränderung im Qigong-Übeprozess. Oldenburg: BIS- Verlag / Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 1998.
Stoevhase, Dorit: Stressbewältigung durch Qigong. Immenhausen bei Kassel: Prolog Verlag 2006.