Der Frust mit der Lust
„Wir lieben uns, aber die Lust ist uns abhandengekommen.“ Oder: „Unser Sexualleben ist eingeschlafen, wie lässt sich in unserer langjährigen Beziehung die Erotik wiedererleben?“ Und nicht selten: „Es geht nicht weiter, wenn sich nichts verändert, trenne ich mich.“
Mit solchen, oder ähnlichen Sätzen beginnt häufig eine Sexualberatung, bzw. Paarberatung. Und weil das Themen sind, die von Paaren ganz häufig angesprochen werden, widme ich mich in diesem Beitrag dem Thema Lustlosigkeit in langjährigen Paarbeziehungen, nach ICD10 auch „Störung der sexuellen Appetenz“ genannt.
Wie entsteht Lustlosigkeit in langjährigen Beziehungen?
Vielfache Faktoren spielen eine Rolle bei diesem Geschehen. Am häufigsten bei Paaren jeden Alters, weil die Beziehung emotional zerrüttet ist. Aber auch gesundheitliche Probleme, finanzielle Sorgen, Stress, Probleme am Arbeitsplatz oder Sorgen um kranke Familienmitglieder lassen keinen Raum für Lust. Weitere „Lustkiller“ sind verschiedene Süchte, z.B. Arbeitssucht, aber auch Hobbys können so intensiv gestaltet werden, dass für die Lust keine Zeit mehr bleibt. Dann führt ein Ausweichen, Vermeiden tendenziell dazu dass sich dieses Problem in der Paarbeziehung manifestiert.
Mindestens ein*e Partner*in muss damit unzufrieden sein, hält es nicht mehr aus, sieht keine Perspektive mehr, damit ein Paar sich für eine Sexualberatung/-therapie entschließt. Die Bereitschaft für eine Auseinandersetzung muss vorhanden sein, damit in einem therapeutischen Prozess gemeinsam mit dem Paar nach Hintergründen, Auslösern und Blockaden gefahndet wird, um festgefahrene Strukturen zu erkennen, aufzubrechen und wenn möglich aufzulösen.
„Sexuelle Lust ist, wenn man sie lässt, eine Vagabundin, die manchmal Heimweh nach einem festen Wohnsitz hat. Sexuelle Lust ist eine Sesshafte, die manchmal vom Fernweh geplagt ist.“ Der Paar- und Sexualtherapeut Ulrich Clement hat die Dynamik sehr zutreffend formuliert, in der Tat, Lust braucht beides; „einen Ort und Bewegung, Stabilität und Fluss – erst in einer Umgebung, die beides zulässt, kann sie leben und gedeihen.“
Ein Auslöser für Lustlosigkeit in der Paarbeziehung sind häufig festgefügte Vorstellungen, wie der Sex sein muss, oder sein soll. Nicht wenig tragen die Medien dazu bei, Beim Hinaufschrauben der Erwartungen werden Paare massiv von Fernsehen, Talkshows, Zeitschriften etc. unterstützt. Über welche „Fallen“ (Clement) Paare stolpern, wenn sie sich damit auseinandersetzen, will ich in der folgenden Betrachtung wiedergeben.
Spontanitätsfalle
Ein beherrschendes Verständnis bei vielen Paaren ist: Nur spontaner Sex ist guter Sex. Das heißt, der Wunsch muss nur der Hoffnung vorangehen, allerdings sind in langjährigen Beziehungen sexuelle Wünsche viel weniger spontan. Vergleiche mit jungen Beziehungen werden herangezogen, wo noch alles anders war. Spontanität kann so zur Falle werden, wenn sie zum Maßstab gemacht wird.
Rücksichtsfalle
Während Rücksicht im partnerschaftlichen Miteinander eher eine Tugend ist, kann sie im erotischen Kontext eher eine lähmende Wirkung haben. Im Sinne von „ich zeige mich in meinen sexuellen Bedürfnissen nur im Rahmen dessen, was vom Gegenüber gutgeheißen und akzeptiert wird“. Unbewusst kommen so neue Elemente der Sexualität, die die festgefahrene Routine in Bewegung bringen könnte, nicht zum Einsatz.
Gegenseitigkeitsfalle
Der Autor unterstellt in diesem Geschehen, dass Partner*innen in der Sexualität im Wesentlichen dasselbe wollen. Unterschiedlichkeiten werden eher verleugnet. Das führt dazu, dass die sexuellen Bedürfnisse und Eigenheiten so kommuniziert werden, dass nur das mitgeteilt wird, was beim Gegenüber auf positive Resonanz trifft. Das Eingeständnis von bisher unbekannten erotischen Seiten macht die Unterschiede deutlich und wird nicht selten als bedrohlich erlebt. Sexuell richtet sich ein Paar dann in der Komfortzone des kleinsten gemeinsamen erotischen Nenners ein, was häufig zur sexuellen Langeweile führt.
Eigentlichkeitsfalle
Häufig tritt man auf ein Verständnis bei Paaren, das davon ausgeht, dass Sexualität ausschließlich Nähe und Bezogenheit der*s Partners*in zum Ausdruck bringen soll. Sexuelle Verhaltensweisen und Inszenierungen mit einem experimentellen und spielerischem Charakter erfahren eine Tabuisierung und werden nicht erwünscht, weil sie eher ängstigt und mit Trennendem in Verbindung gebracht wird.
Wie schaffen es Paare auch in langer Partnerschaft ihre Sexualität lebendig zu halten?
Nach Ulrich Clement ist erotische Entwicklung möglich, wenn folgende Parameter berücksichtigt werden und entsprechende Aufmerksamkeit in der Beziehungsarbeit finden. Ausgehend davon, dass Menschen in erster Linie sexuelle Individuen sind und erst dann Partner*innen, kann erotische Entwicklung die Kontinuität der Beziehung gefährden. „Die Hoffnung, den Komfort einer berechenbaren erotischen Beziehung zu halten und in ihrem Rahmen angstfreue, vergnügte, erotische Fortschritte zu machen, ist verständlich, aber nicht realistisch.“ Entwicklung heißt in dem Sinne, Neues zuzulassen und Neues einzuführen. Das kann sich beängstigend auswirken und ist mit dem Risiko behaftet, dass die erotische Beziehung weniger berechenbar ist.
Erotische Entwicklung setzt aktive Entscheidungen voraus, nicht wartendes Wachstum:
Das heißt trotz Angst die Entscheidung zu treffen, sich dem*r Partner*in zu zeigen, sich zu exponieren. „Entscheidungen, bei, Partner nicht nur das Erwartete, sondern auch das Beunruhigende wahrzunehmen, erotische Risiken einzugehen.“
Ohne Einsatz keine Weiterentwicklung
Häufig wird der leidenschaftliche anfang einer Liebensbeziehung zum Maßstab gemacht. „Warum konnten wir das früher und jetzt nicht mehr“. Paartherapeuten sind sich darüber einig, dass Sexualität und Erotik in langjährigen Partnerschaften nur dann gedeihen kann, wenn Partner*innen bereit sind, Zeit, Pflege und angemessene Aufmerksamkeit zu investieren.
Einer fängt an – erotische Entwicklungen verlaufen asymmetrisch
Im therapeutischen Kontext erleben wir ganz häufig die Situation, dass jeder auf den anderen wartet; darauf wartet, dass der andere anfängt, den ersten Schritt macht. Stagnation ist die Folge. In Bewegung kommen die Partner*innen oft erst, wenn die Unzufriedenheit eines*r Partners*in so groß geworden ist, dass er entweder die Beziehung infrage stellt, fremdgeht oder sonst ein neues Element einführt. Nun wird es ernst, der Preis der Nichtveränderung wird zu groß. „Partner ändern sich nicht, weil sie wollen, sondern weil sie müssen“.
Guter Sex ist ohne mittelmäßigen Sex nicht zu haben
In langjährigen Beziehungen ist es wichtig, den unsensationellen Sex im Alltag genauso zu leben und anzunehmen, wie das erotische Fest. Das Eine ist ohne das Andere nicht zu haben, vielmehr bedingen sie sich einander.
Die gute Nachricht aus der alltäglichen Praxis der Sexualberatung/-therapie ist: Paare haben eine gute Prognose, wenn sie sich ihren Ängsten stellen und die Einsicht vorhanden ist, dass ein Ergebnis nicht in drei Sitzungen möglich ist. Sie müssen sich selbst und ihre Beziehung so wichtig nehmen, dass sie in einem beraterischen/therapeutischen Prozess lustvolle Sexualität wiederfinden können. Gerade in langjährige Beziehungen braucht die Erotik Einladungen. Entscheidend dabei ist, dass es Paaren gelingt, günstige Kontexte, Inszenierungen und Situationen herzustellen, die aus der Schwerkraft des Alltags locken.
Geschrieben von:
Ursel Nassadowski, 2013
Lit.: U. Clement: Systematische Sexualtherapie, Klett-Cotta, Stuttgart 2006
U. Clement: Guter Sex trotz Liebe, Ullstein-Verlag, Berlin 2008